Mittwoch, Oktober 16

Zentrum der Macht: „Das Europäische Parlament ist durchaus stärker, als es die Verträge nahelegen.“

Interview: Sarah Huemer und Vanessa Holer | Lesedauer: 6 min. |

„Wir vereinigen keine Staaten, wir vereinigen Menschen“, so Jean Monnet, einer der Gründungsväter der Europäischen Gemeinschaft. Michael Wolf vom Innsbruck Center for European Research (ICER) hat im Interview mit „Makademia“ über die Aufgaben des Europäischen Parlaments, seine Forschung rund um die EU und die Zukunft der Union gesprochen.

Makademia: Für all jene, denen im „Dschungel der EU-Institutionen“ noch etwas der Durchblick fehlt: Was sind die Aufgaben und Merkmale des Europäischen Parlaments?

Michael Wolf: Wichtig ist es zu betonen, dass die EU vor allem auch ein Friedensprojekt ist, das in den 1950er Jahren initiiert wurde. Dazu wurde u.a. die „Hohe Behörde der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ geschaffen, die später zur Europäischen Kommission wurde. Doch diese war weder wirklich transparent noch direkt demokratisch legitimiert – es brauchte somit eine parlamentarische Versammlung. In meiner Forschung fasziniert mich das Europäische Parlament besonders, weil es in den letzten Jahren so massiv an Bedeutung gewonnen hat. Damit meine ich: Es ist die einzig direkt gewählte supranationale Institution der Welt. Sie wird seit 1979 direkt gewählt und ist sozusagen die Kammer für uns Bürger*innen, wo wir ganz direkt Einfluss nehmen können auf das, was EU-Recht wird. Die Vorschläge der Kommission werden heutzutage gleichberechtigt zwischen dem Europäischen Parlament und Ministerrat (Anm. besteht aus den jeweiligen Ministern der Mitgliedsstaaten) verhandelt und wenn sich beide einig sind, wird daraus letztlich eine Verordnung, eine Richtlinie oder ein Beschluss. 

Makademia: Wie und ab welchem Zeitpunkt forscht du?

Michael Wolf: Das Parlament hat mit jeder neuen Vertragsänderung mehr Macht bekommen und zunehmenden Einfluss in immer mehr Politikbereichen erlangt – besonders mit der Einführung der Direktwahlen 1979. Ich schaue mir vor allem an, warum und wie das Parlament im Laufe der letzten Jahrzehnte stärker geworden ist und wie sich die politischen und rechtlichen Handlungsspielräume verändert haben.  

Makademia: Das heißt, es wird vor allem viel mit Rechtstexten geforscht?

Michael Wolf: Das ist sehr unterschiedlich. Ich habe einen starken Blick auf die europarechtlichen Aspekte. Doch wir Politikwissenschaftler*innen fokussieren natürlich auch darauf, welche Auswirkungen diese auf die tatsächliche Politikgestaltung haben. Wir fragen uns, warum es dem Parlament gelungen ist, gewisse Passagen in Rechtstexten auch anders – oft zum eigenen Vorteil – zu interpretieren. Schwächen, die sich aus den Verträgen ergeben, können so in der politischen Realität in Stärken umgewandelt werden, beispielsweise in Bezug auf die Benennung der Kommission oder die Verhandlungen über die langfristige Programmplanung   der Kommission. So ist das Europäische Parlament durchaus stärker, als es die Verträge nahelegen. 

Makademia: Bürokratischer Elfenbeinturm im fernen Brüssel oder bürgernahe Volksversammlung – was ist dein Eindruck des Europäischen Parlaments? 

Michael Wolf: Ich würde schon meinen, dass es das Ohr auch immer am Bürger und der Bürgerin hat, denn die Abgeordneten sind natürlich auch aus den Wahlkreisen der einzelnen Mitgliedsländer entsandt. In Österreich haben wir mittlerweile 19 Abgeordnete im Europäischen Parlament, die in den sogenannten „Wahlkreiswochen“ auch immer wieder in ihren Regionen unterwegs sind. Außerdem sind die Abgeordneten in ständigem Austausch mit den jeweiligen Landes- und Bundesregierungen, Verwaltungsbehörden sowie den unterschiedlichsten Interessensvertreter*innen und der Zivilgesellschaft.

Makademia: Woher kommt es dann, dass in Österreich jene Politiker*innen, die auf Landes- oder Bundesebene agieren, großteils bekannt sind, aber kaum jemand weiß, wer Österreich in Brüssel vertritt?

Michael Wolf: Gute Frage (lacht). Ein Grund ist, dass in den Medien nationale Themen meist überwiegen. Es wird in den Nachrichten zu wenig über Entscheidungen der EU-Institutionen berichtet, obwohl diese doch immerhin 450 Millionen Menschen betreffen. Und ich sehe da auch ein Vermarktungsproblem bei den Erfolgen der EU. Man denke hier beispielsweise an die Abschaffung der Roaminggebühren im Juni 2017 – derartige Erfolge gibt es häufig, diese sollte man als Institution aber sicherlich noch intensiver nach außen tragen. 

Makademia: Du forscht auch zum Mehrebenparlamentarismus. Was versteht man darunter?

Michael Wolf: Generell muss man verstehen, dass die EU dem europäischen Rechtssystem eigentlich nur eine weitere Stufe oder – vielleicht besser – ein Dach, aufgesetzt hat. Alles, was in Europa heute an Politik gemacht wird, ist ein unglaublich komplizierter Prozess, der auf vielen verschiedenen Ebenen abläuft. Einfach ausgedrückt: Es wird in Innsbruck auf Gemeindeebene Politik gemacht, in Tirol agiert die Landesregierung und auf Bundesebene die Bundesregierung – und dann gibt es die europäische Ebene. Und all diese Ebenen haben in der Regel parlamentarische Kammern, also in Innsbruck den Gemeinderat, in Tirol den Landtag, in Österreich den Nationalrat und auf europäischer Ebene das Europäische Parlament. Dort sitzen direkt gewählte Vertreter*innen, die Regierungsvorlagen beraten oder Vorschläge für neue Rechtsakte einbringen. All diese verschiedenen Ebenen müssen sich aufeinander abstimmen und tagtäglich miteinander interagieren. Das versteht man unter „Multi-Level-Governance“, dem Regieren auf mehreren Ebenen. Um das zu erzielen, gibt es gewisse Rechtsgrundlagen wie etwa das Subsidiaritätsprinzip. Dieses besagt vereinfacht gesagt, dass man Anliegen auf jener Ebene regeln soll, wo es den größten Sinn macht und jedenfalls möglichst nah am Bürger bzw. der Bürgerin. Probleme, die auf einer „niedrigeren“ Ebene wie dem Gemeinderat nicht gelöst werden können (z.B. Steuern, Außenpolitik) gelangen auf eine höhere Ebene. Klima, zum Beispiel, kennt keine Grenzen – da muss ein ganzer Kontinent, idealerweise aber die ganze Welt zusammen anpacken. 

Makademia: Wo liegen die Stärken und die Schwächen des EU Parlaments?

Michael Wolf: Fangen wir mit den Stärken an: Seit der Einführung der Direktwahlen 1979 ist das Parlament direkt demokratisch legitimiert und somit das einzige supranationale Organ weltweit, das seither regelmäßig direkt gewählt wird. Spätestens seit dem Vertrag von Lissabon (seit 2009 gültig) ist es auch so, dass es in den allermeisten Politikbereichen auf Augenhöhe mit dem Ministerrat gleichberechtigt in die europäische Gesetzgebung eingebunden ist. In jedem weiteren Jahrzehnt seit seiner Gründung in den 1950er Jahren hat das Parlament mehr Mitsprache bekommen – mit einigen wenigen Ausnahmen, wie zum Beispiel Außenpolitik, die Nationalstaaten nach wie vor nicht aus der Hand geben bzw. einer parlamentarischen Kontrolle unterziehen wollen. Das ist natürlich eine Schwäche des Parlaments, dass es ein paar Politikbereiche gibt, bei denen es nach wie vor kaum eine Mitsprache hat. Eine andere Schwäche ist, dass es auf europäischer Ebene mittlerweile eine sehr große Zahl an Abgeordneten gibt, die den Einigungsprozess ganz grundsätzlich ablehnen. So wird das Parlament aus den eigenen Reihen massiv geschwächt, wenn manche Bürger*innen bei den Europawahlen nicht nachdenken, wo sie das Kreuz machen. Viele Menschen sind einfach auch Protestwähler, die mit der nationalen Politik unzufrieden sind und diese Unzufriedenheit in ihrem Wahlverhalten auf die europäische Ebene übertragen.

Makademia: Zum Abschluss noch deine persönliche Einschätzung – Wie denkst du, wird sich die europäische Integration in den kommenden Jahren entwickeln?

Michael Wolf: Politikwissenschaftler*innen sind in aller Regel gut darin, zu begründen, warum etwas gut oder schlecht gelaufen ist –  aber schlecht darin, vorherzusehen, wie sich Dinge in Zukunft entwickeln werden. Hier gibt es einfach viel zu viele Variablen zu berücksichtigen. Aktuell haben wir einen sehr wichtigen Meilenstein, den mehrjährigen Finanzrahmen. Dieser ist auf Staats- und Regierungschefebene bereits abgesegnet, im Herbst muss aber noch das Parlament zustimmen. Grundsätzlich wird ein sehr großes Budget freigegeben und da gibt es auch viele positive Punkte. Das sind für mich Anzeichen, dass es in eine gute Richtung gehen könnte. Die Kehrseite ist natürlich: Wie gehen wir mit den Staaten um, die positive Tendenzen nach wie vor bremsen? Es wird auch spannend, wie es mit den Briten weitergeht bzw.  ob bei einem No-Deal-Brexit beide Seiten verlieren und der zu erwartende wirtschaftliche Abwärtstrend sich noch weiter verstärken wird. Aber auch bei einigen Staaten, speziell im Osten der EU, stellt sich die Frage, ob diese vielleicht irgendwann doch noch erkennen, wie wichtig der Einigungsprozess für uns alle ist. Und irgendwann wird sich auch die Frage nach einem neuen Grundlagenvertrag wieder stellen. Vielleicht kann man sich auf die eigentlich notwendigen nächsten Schritte, eine tiefergehende Integration, einigen. Die Frage bleibt, ob alle Staaten diese Integrationsschritte mittragen oder sich einzelne weiterhin dagegen verwehren. Doch Hoffnung besteht natürlich immer, dass sich die „bremsenden Staaten“ doch noch zur EU bekennen und dieses – in der bisherigen Weltgeschichte sicherlich einmalige – politische Projekt auf die nächste Stufe heben werden. 

Zur Person: Michael Wolf ist seit 2013 als studentischer, nach dem Abschluss seines Masterstudiums der „Europäischen Politik und Gesellschaft“ (2016) als wissenschaftlicher Mitarbeiter bzw. Doktorand am „Innsbruck Center for European Research“ tätig. Neben Forschungs- und Lehrtätigkeiten im Zusammenhang mit den langfristigen Dynamiken des europäischen Mehrebenenparlamentarismus ist er bei der Stadt Innsbruck und dem Land Tirol in verschiedenen Aufgabenbereichen tätig. Seit Juli 2020 vertritt er die Interessen des Landes Tirol in der Vertretung der Europaregion „Tirol-Südtirol-Trentino“ in Brüssel. 
Homepage: www.icer.at/team/michael-wolf

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