Mittwoch, Oktober 16

Goethe einmal anders – Weltliteratur, vergleichende Literaturwissenschaft und Physik

Sebastian Donat ©Franz Oss

Von Simon Schöpf
Lesezeit:
ca. 8 Minuten

Ein Forschungsgebiet von Univ.-Prof. Dr. Sebastian Donat ist die „Interferenz als literaturwissenschaftliches Konzept“ – wie dieses Modell, welches aus der Physik stammt, auf Johann Wolfgang von Goethe angewandt wird und was sich daraus lernen lässt, erfahrt ihr hier.

Warum Goethe?

Sebastian Donat hatte sich bereits in seiner Dissertation mit Goethe beschäftigt und verfasste seither außerdem mehrere Publikationen über den vermutlich berühmtesten deutschsprachigen Autor. Im Jahr 2017 bekam Donat eine Anfrage der Goethe-Gesellschaft in Weimar, ob er bei einer Tagung einen Vortrag über 1828 veröffentlichten kurze Notiz „Helena in Edinburgh, Paris und Moskau“ halten würde.

Der Text stammte aus der von Goethe selbst herausgebrachten Zeitschrift „Kunst und Altertum“. Bevor der zweite Teil von Faust komplett herauskam, veröffentlichte Goethe vorab einzelne Teile, darunter den „Helena“-Akt in seiner Werkausgabe. Im deutschsprachigen Raum wurden diese jedoch nur wenig rezipiert bzw. stark kritisiert. Im europäischen Ausland wurde der Vorabdruck des „Helena“-Akts (1827) ebenfalls wahrgenommen, und in Zeitschriften in Frankreich, England und Russland gab es dazu Rezensionen. Dieses Feedback hat Goethe sehr interessiert:

Faust. Der Tragödie zweiter Teil wurde erst einige Monate nach Goethes Tod im Jahr 1832 in der sogenannten „Ausgabe letzter Hand“, von Friedrich Wilhelm Riemer und Johann Peter Eckermann herausgebracht

„Wie dieser Ševyrev seinen Helena-Akt gelesen hat, sehr religiös, sehr christlich, das war Goethes Anliegen ganz sicher nicht. Aber er fand es einfach spannend, wie andere Leute darüber denken und in diesen Austausch einzutreten und so den Horizont wechselseitig zu erweitern. Das hat ihn fasziniert.“

Interferenzen

interference, waves, abstract-539014.jpg

Das Interferenz-Modell gefällt Sebastian Donat, da „man konkrete Bilder vor Augen hat“: Werden Steine in ein ruhiges Gewässer geworfen, entstehen Wellen, die sich überlagern (oder auslöschen) – sie interferieren. Auch das Schimmern von Seifenblasen beruht auf einem Interferenzeffekt. Da das Modell Begrifflichkeiten (wie Amplitude, Frequenz, Phase etc.) aus der Physik entlehnt, entsteht des Weiteren der Eindruck von Messbarkeit:

„Literarische bzw. kulturelle Wechselwirkungen können nicht präzise ‚vermessen‘ werden, sondern erhalten mit dem aus der Physik entlehnten Konzept lediglich ein analytisches Modell, das es erlaubt, den Überlagerungsprozess präziser zu beschreiben.“

Ein konkretes Beispiel: Sebastian Donat wandte sein Modell auf den Helena-Akt und dessen Wahrnehmung bzw. Rezeption in anderen Ländern an. Dabei wurde die Art und Konstellation der Impulse (und dabei wiederum sind die Amplituden natürlich wichtig) und das sich daraus ergebende Überlagerungsmuster im jeweiligen Land betrachtet. Im englischen Sprachraum wurde der sprachliche Kontext eher zurückgestellt und die Rezensierenden ließen sich mehr darauf ein, was „Neues“ aus der deutschsprachigen Literatur kam.

soap bubble, to dye, multicoloured-3490954.jpg

„Goethe ordnet der englischen Reaktion den Begriff ‚durchdringen‘ zu, was eher auf ein gleichberechtigtes Verhältnis der beiden Impulse (Eigenes und Fremdes) hindeutet.“

In Frankreich floss das Verhältnis von „Klassikern“ und „Romantikern“ bzw. deren „Streit“ in die Rezeption ein.

Goethe ordnet der französischen Rezension das Verb ‚verstehen‘ zu und deutet damit an, dass in diesem Fall die größte Offenheit gegenüber dem neuen, fremden Impuls vorhanden ist (dieser besäße damit also gegenüber dem eigenkulturellen Impuls die größere Amplitude).“

In Russland war die „Amplitude“ des eigenkulturellen Impulses am höchsten, da der Rezensent seinen kulturellen/religiösen Background am stärksten in die Interpretation miteinbezog.

Eine weitere Möglichkeit, den Begriff Interfenz einzubringen, ist die Bewertung der Rezensionen. Die deutschsprachigen Kritiken waren kurz und hinterließen einen eher negativen Eindruck des Helena-Akts. Die drei veröffentlichten fremdsprachigen Kritiken fielen hingegen ausführlicher und durchaus positiv aus,

damit stellten sich für Goethe selbst positive Interferenzen ein: Trotz aller zum Teil substanzieller Unterschiede dominierte die Offenheit für sein Werk und die ihm entgegengebrachte Wertschätzung.

Weltliteratur damals und heute

Ein weiterer spannender Aspekt von Sebastian Donats Forschung zu Goethe ist der Begriff der Weltliteratur. Goethe hat diesen nämlich stark geprägt und die akademische Diskussion über Weltliteratur geht bis heute auf ihn zurück. Goethe war es ein Anliegen, dass es Kommunikation zwischen Literaturen verschiedener Länder gäbe. Übersetzungen in andere Sprachen waren ein wichtiger Punkt für ihn. Er hat seine übersetzten Werke dann wieder gelesen – nicht, weil es Goethe um die Übersetzung per se ging, sondern um einen Blick aus einer anderen Sprache/Kultur zu bekommen. Sebastian Donat dazu:

„Laut Goethe verstehen die Engländer Schiller vielleicht besser als die deutschsprachigen Leserinnen und Leser. In jedem Fall ist es interessant, diese andere Perspektive auch noch mit wahrzunehmen. Aktualität, direkter Austausch und Erweiterung des Horizonts dadurch, dass man anderes (gerne) wahrnimmt, auch das ist eine besondere Idee von Goethe gewesen“.

Dabei spielt es kaum eine Rolle, ob ein z. B. ins Französische übersetztes Gedicht verstanden/missverstanden, gelobt oder getadelt wird – es ist in jedem Fall einfach gut, dass es überhaupt wahrgenommen wurde und es die Möglichkeit gab und gibt, sich als Autor:in selbst zu relativieren. Dies ermöglicht einen Austausch über die Eigen- und Fremdwahrnehmung, eine Horizonterweiterung und eine Thematisierung dessen, was gegenwärtig in der Welt passiert.

Aus dem Jahr 1827 ist ein Gespräch zwischen Goethe und seinem Sekretär Eckermann dokumentiert, in welchem es um die englische Übersetzung eines chinesischen Romans ging. Eckermann ging davon aus, dass dieser Roman wohl zum Literatur-Kanon gehörte. Goethe widerspricht ihm: Es sei einer von vielen chinesischen Romanen, dieser war ihm halt zugesandt worden. Des Weiteren fügte Goethe noch eine Kulturrelativierung hinzu, indem er sagte, die „Chinesen“ hatten solche Romane schon zu hunderten, als „wir“ noch in den Bäumen lebten.

Die Verwendung des Begriffs „Weltliteratur“ heutzutage entspricht vielfach der Vermutung Eckermanns über das chinesische Buch: Es muss wohl ein anerkanntes Werk aus diesem Land sein – fast genau das Gegenteil, was Goethe unter Weltliteratur verstand – vorerst, denn er änderte bald darauf seine Meinung. Problematisch war die „Hegemonie“ der englischsprachigen Literatur auf dem Literaturweltmarkt.

Linsk: By Karl Joseph Stieler – Transferred from nds.wikipedia to Commons..org by G.Meiners at 12:05, 15. Okt 2005., Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=375657 | Rechts: Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=442193

Dieses heutzutage wohlbekannte Phänomen gab es bereits um das Jahr 1800. Die Dominanz englischsprachiger Literatur auf den internationalen Buchmärkten zeichnete sich damals bereits ab – meist in Übersetzung und nicht in der Originalsprache. Diese Dominanz des Englischen bzw. teilweise auch des Französischen führte dazu, dass Goethe das Phänomen der Weltliteratur immer negativer wahrnahm. Ab 1828/1829 empfand er sie sogar als „Flut“, gegen die man sich im deutschsprachigen Raum zusammentun müsse.

Der schottische Schriftsteller Walter Scott, ein Zeitgenosse Goethes, war im deutschen Sprachraum so beliebt, dass „Übersetzungsfabriken“ entstanden. Deutschsprachige Leser:innen wollten schnellstmöglich dessen Werke lesen, sodass zum Teil die deutsche Übersetzung eher erschien als das englische Original. Dabei waren die Übersetzungen aber von unterschiedlichster Qualität. Goethe hätte sich eine ähnliche Beliebtheit für deutschsprachige Werke gewünscht.

Im Vergleich zum Beginn des 19. Jahrhunderts zeichnet sich die „Neue Weltliteratur“ der jüngsten Vergangenheit mehr durch die Überwindung nationaler bzw. sprachlicher Grenzen aus. Themen wie Mehrsprachigkeit und Überschreiten von (nationalen) Grenzen, Migrationsgeschichten usw. stehen im Fokus dieses Genres.

Der Begriff „Neue Weltliteratur“ wurde von der Komparatistin Elke Sturm-Trigonakis geprägt. Die österreichische Literaturkritikerin Sigrid Löffler griff den Begriff auf und machte diesen im Feuilleton bekannt

Ist Goethe noch zeitgemäß?

Viele, die eine österreichische (oder deutsche/schweizerische) Schule besuchten, mussten Goethe lesen und vermutlich wenige 14 bis 15-Jährige waren bzw. sind begeistert von seinen Werken. Nichtsdestoweniger sollte Goethe im Lehrplan bleiben, meint Sebastian Donat. Dazu müsste nur das Zeitgemäße der Texte stärker sichtbar gemacht werden:

„Wenn man sich solche Prozesse anschaut, wie sie vor 200 Jahren abgelaufen sind und sie damit vergleicht, was wir heute erleben, finde ich, ist das eine Bereicherung. Man kann sich ein Stück weit selbst relativieren. Man kann aber tatsächlich auch sehen, was jetzt anders ist, als es damals war. Ich finde, das hilft einem ein bisschen, seinen Platz zu bestimmen und auch die Prozesse zu beschreiben, zu bewerten, die sich gegenwärtig unter dem Vorzeichen von Globalisierung und den Tendenzen zur Blockbildung, Abgrenzung usw. abzeichnen. Nicht nur im Sinne: Es ist tröstlich zu sehen, dass es früheren Generationen auch schon so gegangen ist – Sondern es kann tatsächlich aufschlussreich sein zu sehen. Wie hat man das wahrgenommen? Wie hat man versucht, politisch darauf zu reagieren? Und vielleicht kann man ja aus den Fehlern früherer Generationen und anderer Kulturen lernen.“

Dafür würde Sebastian Donat nicht „Die Leiden des jungen Werther“ heranziehen, sondern eher „Faust“ (Teil 1). „Nicht sehr originell“, hält er dabei schmunzelnd fest. Die enthaltenen Themen sind vielfach zeitlos, wie z. B. das Streben nach Erkenntnis, der Wunsch, jung zu bleiben, die Figur des Mephisto und vieles mehr. Wohl auch ein Grund, wieso Faust nach wie vor im Theater aufgeführt wird.

Abschließend hält Sebastian Donat fest, dass es prinzipiell wichtig ist, nicht im „Elfenbeinturm“ zu verharren, sondern den Austausch zu suchen – entsprechend der Idealvorstellung von Wissenschaft. Den Horizont erweitern und sich auch trauen, Methoden oder Ideen aus ganz anderen (Wissenschafts-)Disziplinen zu nehmen, zu transformieren und in das eigene Konzept zu integrieren. Dem kann ich mich nur anschließen!

Sebastian Donats Vortrag auf YouTube
https://www.youtube.com/watch?v=yilU8q38gaw

Link zur Uni-Homepage
https://www.uibk.ac.at/vergl-litwiss/personen/donat/

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert