Freitag, April 19

Wie erste völkerrechtliche und cyberrechtliche Einschätzungen zur Situation in der Ukraine aussehen – Teil 1

von Vanessa Holer
Lesedauer: 5-6 min

Krieg mitten in Europa: unvorstellbar, doch mittlerweile traurige Realität. Kein anderes Thema bekommt derzeit eine so große mediale Aufmerksamkeit wie der Ukraine-Krieg. Neue Informationen gelangen laufend aus dem Krisengebiet nach Österreich. Makademia hat sich bei einem Event des Instituts für Theorie und Zukunft des Rechts und des Instituts für Europarecht und Völkerrecht der Universität Innsbruck dazu informiert. Wie sehen erste völker- und cyberrechtlichen Einschätzungen zur Ukraine und Russland aus?

Der Ukraine-Konflikt hat viele unterschiedliche Dimensionen. Was allerdings klar scheint, ist dessen Rechtswidrigkeit. „Bei der Frage nach der Rechtskonformität gibt es eine faktische und rechtliche Evidenz, dass das Gewaltverbot und das Verbot des Angriffskriegs sowie damit im Zusammenhang die territoriale Integrität der Ukraine verletzt wurden“, führt Univ.-Prof. MMag. Dr. Andreas Th. Müller, LL.M. aus. Hinzukommen würden Kriegsverbrechen.  Ebenfalls sei klar, dass „die Rechtfertigungsgründe, die Russland versucht, ins Treffen zu führen – seine eigene Selbstverteidigung, Selbstverteidigung zugunsten von Luhansk und Donezk, ein angeblicher Völkermord in der Ostukraine oder der Schutz russischer Staatsbürgerinnen und Staatsbürger – nicht tragen, keine von ihnen.“  Klar sei die fundamentale Völkerrechtsverletzung durch Russland. Zu den Sanktionen stellt der Professor für Europarecht und Völkerrecht klar: „Aus völkerrechtlicher Sicht haben wir hinsichtlich der Unterstützung der Ukraine kein Problem. Die Ukraine hat nach Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen das Recht zur kollektiven Selbstverteidigung, d.h. auch das Recht, sich von anderen Hilfe bei der Selbstverteidigung zu holen. So könnte man der Ukraine militärisch zur Seite stehen. Auf jeden Fall sind Sanktionen im Sinne von Gegenmaßnahmen gedeckt.“ 

UN-Sicherheitsrat: Wie wird sich China verhalten?

Die erste Ansprechorganisation im internationalen System sind bei einer kriegerischen Auseinandersetzung die Vereinten Nationen. „Die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit trägt der UN-Sicherheitsrat. Wenn es dort aber um substanzielle Entscheidungen geht, besitzen die ständigen Mitglieder, also die USA, China, Russland, Frankreich und Großbritannien, ein Vetorecht“, erklärt Professor Müller. Von diesem machen die Staaten je nach Bedarf Gebrauch, was am jüngst eingelegten Veto von Seiten Russlands ersichtlich sei. „Ein interessanter Aspekt in diesem Zusammenhang ist die Frage, wie sich mittelfristig China verhalten wird.“ Beispiele aus der Vergangenheit, wie die Syrien-Resolutionen, zeigen, dass China oft mit Russland gegen den Westen gestimmt hat. Andreas Müller gibt zu bedenken: „Momentan ist China aber ehr zurückhaltend und wartet ab. Für die Legitimität des Vorgehens gegen Russland wird die Positionierung Chinas aber ein wichtiger Faktor sein.“ Was kann man sich also vom Sicherheitsrat erwarten? Aufgrund des russischen Vetos kann er wenig bis gar nichts tun. Es stellt sich die Frage, wie es um die Rolle der UN-Generalversammlung steht. Denn in der Generalversammlung, also dem Gremium der UNO, in dem alle 193 Mitglieder vertreten sind, wird mit einfacher Mehrheit abgestimmt, also ohne Vetomöglichkeit. 

Wie sich die Völkerrechtsordnung verändert, zeigt sich nicht heute oder morgen

Wenn der Sicherheitsrat blockiert ist, kann unter dem Modell der „Uniting for Peace Resolution“ auch die Generalversammlung tätig werden: „Damit ist jetzt der Russland-Ukraine-Konflikt auf der Tagesordnung der Generalversammlung. Mit großer Sicherheit wird man die Aggression von Seiten Russlands auch als solche benennen und verurteilen. Interessant sind die genauen Abstimmungsergebnisse der nächsten Tage!“, so Müller. Wie stark ist die Zustimmung zur Verurteilung Russlands? Wie viele Enthaltungen gibt es? Wichtig findet der Rechtsprofessor auch: „Wie breit, wie repräsentativ die Zustimmung aus der Weltgemeinschaft ist, ist von enormer Bedeutung!“ Wie die Ergebnisse sich auf die Völkerrechtsordnung auswirken, werde nicht heute oder morgen entschieden, sondern in den nächsten Jahren oder erst im nächsten Jahrzehnt. Die Abstimmung vom 02. März 2022 in der Generalversammlung zeigt aber ein klares Bild: 141 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen verurteilten den russischen Einmarsch in die Ukraine und forderten daher in einer Resolution Russland dazu auf, seine Aggression zu beenden. 35 Länder enthielten sich. Gegen diesen Beschluss hatten sich Belarus, Eritrea, Nordkorea, Syrien und Russland ausgesprochen.

©Pixabay: In den Vereinten Nationen haben sich 193 Staaten zusammengeschlossen, um u.a. für die Sicherung des Weltfriedens, die Einhaltung des Völkerrechts, den Schutz der Menschenrechte und die Förderung der internationalen Zusammenarbeit zu sorgen.

Pflicht, den Krieg zu beenden und die Schäden wiedergutzumachen

Damit hänge eine weitere „Baustelle“ zusammen. „Wir haben es mit einer Verletzung einer sogenannten ius cogens-Norm zu tun, also einer Verletzung des zwingenden Völkerrechts: Das Gewaltverbot wurde verletzt und ein Angriffskrieg geführt. Das bedingt natürlich die Pflicht, den Krieg zu beenden und die Schäden wiedergutzumachen“, erklärt der Völkerrechtler. Dass das in unmittelbarer zeitlicher Nähe geschieht, sei mehr als unwahrscheinlich. Damit gehe laut Professor Müller aber auch für alle anderen Mitglieder der Staatengemeinschaft die Pflicht einher, „diese illegale Situation jetzt und in Zukunft nicht anzuerkennen und keine Akte zu setzen, die indirekt eine solche Anerkennung herbeiführen. Das wird eine Frage des langen Atems sein. Sind wir als Europa, oder generell als Weltgemeinschaft, dazu willens und imstande? Können wir dauerhaft davon Abstand nehmen, Kooperations- und Wirtschaftsabkommen zu schließen, damit wir nicht indirekt diese Verhältnisse legalisieren?“ Das müsse man sowohl für die von Russland eroberten Gebiete als auch für Marionettenregime, die Russland dann womöglich installiert hat, bedenken. 

Was haben die Gerichte dazu zu sagen? 

Die Ukraine hat vor wenigen Tagen die jetzige Aggression vor den Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag gebracht, und zwar unter Berufung auf die Völkermordkonvention. „Da sich Russland nicht grundsätzlich dem IGH unterworfen hat, hätte die Ukraine sonst keinen Zugriff auf Russland“, analysiert Müller.  „Das juristische Eis, auf dem sich die Ukraine hier bewegt, ist relativ dünn. Es könnte aber dazu reichen, dass der IGH zumindest einstweilige Maßnahmen verhängt, die nächste Woche schon – also für den IGH ungewöhnlich schnell – vor Gericht verhandelt werden sollen.“ Man werde sehen, ob sich Russland überhaupt an dem Verfahren beteiligt. Die Maßnahmen würden jedenfalls darauf hinauslaufen, dass der Krieg nicht weitergeführt werden darf. Das würde Russland natürlich ignorieren. Allerdings ergäbe sich daraus auch ein längerfristiges Entwicklungspotenzial. 

Auch beim Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) wurde vor kurzem angekündigt, Ermittlungen gegen Russland und die Ukraine zur starten. „Diese Ermittlungen sind jetzt offen gefasst, da es sich um Kriegsverbrechen, für die es schon erste Hinweise gibt, und um Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die jetzt und in Zukunft auf ukrainischem Boden begangen werden, handelt. Egal von welcher Seite diese geschehen, für den IStGH ist es möglich, sich hier zu engagieren, obwohl weder die Ukraine noch Russland Parteien des IStGH-Statuts sind“, erklärt Professor Müller.  Die Ukraine hatte vor fünf Jahren eine Art Unterwerfungserklärung gemacht, die es dem IStGH ermöglicht, bei Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie Völkermord auf ukrainischem Boden tätig zu werden. 

Jetzt schon klar: kein Verfahren gegen Russland wegen Aggression

Ausgeschlossen sei auf alle Fälle ein Verfahren wegen der Aggression Russlands, obwohl der IStGH grundsätzlich dafür zuständig ist. Dafür müsste allerdings eine von zwei Bedingungen erfüllt sein: 1. Wenn der UN-Sicherheitsrat eine Anklage vorlegt, was wegen des russischen Vetos nicht geschehen wird, oder 2. wenn sich der Staat, dem die Aggression vorgeworfen wird, zustimmt. Das ist wiederum bei Russland nicht der Fall. „Die Aggression, der Angriffskrieg, das, was uns am meisten in der völkerstrafrechtlichen Verantwortung interessiert, ist juristisch im Moment nicht greifbar. Offen bleibt, ob sich ein Spezialtribunal nach Vorbild des Nürnberger Tribunals, das erst im Nachhinein etabliert wird, damit in Zukunft auseinandersetzt. Das aber ist gegenwärtig nur eine vage Hoffnung“, so Müller.

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