Freitag, März 29

Menschenrechte in Zeiten von Pandemien und Protestbewegungen: Drei Fragen, drei Antworten

von Vanessa Holer
Lesedauer: 5 – 6 min.

Makademia: Wie beurteilen Sie die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung hinsichtlich der Menschenrechte?

Marie-Luisa Frick: Das ist nicht so einfach. Zunächst muss man evaluieren, welche Rechte man eingeschränkt und welche Rechte man durch die Maßnahmen gesichert hat. Es ist keine eindimensionale Rechnung. Und dann muss man das Ganze bewerten: eine unvermeidlich subjektive Angelegenheit. Bei dieser Diskussion ist mir noch wichtig, etwas zu unterscheiden, was oft in der Öffentlichkeit untergeht. Wenn wir von Rechten sprechen, dann können wir entweder die Menschenrechte oder die politischen Grundrechte meinen, die sich mit den Menschenrechten überschneiden, aber eigentlich zur Demokratie gehören. Ein solches politisches Grundrecht etwa ist das Versammlungs- und Demonstrationsrecht. Es ist weniger ein Menschenrecht, als ein demokratisches Grundrecht. Dieses Recht wurde zeitweise aufgrund der Seuchenbekämpfung eingeschränkt. Das ist durchaus heikel. Man könnte nach wie vor sagen, die Menschen haben die Möglichkeit, z.B. im Internet, ihren Dissens auszudrücken. Sie können offene Briefe formulieren. Niemand unterdrückt sie, wenn sie eine andere Meinung haben. Aber man darf diese Einschränkungen nicht zu leichtfertig sehen.

Um wieder auf die Menschenrechte zurückzukommen: Das grundlegende Recht, das jeder einfordern will, ist Leben. Das betrifft alles, was mit dem unmittelbaren Existieren, dem Überleben und dem Sicher-Leben zu tun hat. Dazu zählt vieles, was uns oft gar nicht bewusst ist. Und danach kommen die anderen Rechte, dass ich mich frei entfalten kann, nach meinen eigenen Vorstellungen. Aber dieses freie Entfalten-Können muss genau dort Grenzen haben, wo sich auch andere Menschen frei entfalten wollen. Die Grundfrage ist, wie man Menschenrechte ausgestalten kann, wenn sie nicht nur ein Mensch hat, sondern alle und wir uns nicht gegenseitig auf die Füße treten wollen. Es ist klar, dass es hier keine idealen Lösungen gibt. Gerade jetzt in dieser Situation der Pandemie hätte ich gerne eine Theorie, die sagt: „Genau so ist es menschenrechtskonform und anders nicht.“ Diese Theorie kann es leider nicht geben.

Makademia: Was ist Ihre Meinung zu einer Impfpflicht? Sollte die Grippeschutzimpfung verpflichtend sein bzw. wenn es einen Coronaimpfstoff gibt?

Marie-Luisa Frick: Zunächst einmal ist es momentan viel zu früh für diese Frage. Wir sollten froh sein, wenn wir uns diese Frage irgendwann stellen können. Das, was Russland macht, kann nicht das Vorbild für Europa sein. Ich habe die Befürchtung, dass mit hypothetischen Diskussionen die Menschen auf eine Lösung des Problems vorbereitet werden, die es noch nicht ansatzweise gibt. Um darüber diskutieren zu können, muss es einen Impfstoff geben, der in allen drei Phasen geprüft worden ist; in Ländern, die wissenschaftlich sauber arbeiten und die politisch frei sind.

Aus meiner menschenrechtlichen Sicht würde ich hier sagen, dass Menschen nicht gegen ihren Willen zu irgendwelchen Medikationen oder Impfstoffen gezwungen werden dürfen. Das wäre aus meiner Sicht ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit, selbst wenn die Risiken minimal wären. Das wäre grundsätzlich ein Problem. Jetzt kann man sagen: Das ist ein kleines Problem verglichen mit dem großen Problem der Menschheit, diese Seuche los zu werden. Da kommt man in eine utilitaristische Abwägung. Ich würde nicht ausschließen, dass bei gewissen Krankheiten oder auch unter gewissen Umständen sogar gegen das einzelne Menschenrecht entschieden wird. Dass man wie damals bei der Pockenimpfung sagt: „Es ist für die Menschheit insgesamt viel besser, wenn wir in Kauf nehmen, dass pro Million Menschen zwei sterben, aber dafür eine schreckliche Krankheit für immer ausgerottet wird.“ Ich würde eher vorsichtig und menschenrechtlich argumentieren: „Es handelt sich um meinen Körper und wenn ich einen Eingriff nicht möchte, ist das zu respektieren.“ Aber Staaten können sehr wohl Anreize setzen und Menschen lenken. Wer im Bildungsbereich, im Krankenhaus oder im Pflegeheim arbeiten möchte, der müsste sich dann diesen Einschränkungen unterwerfen und sich impfen lassen. Das halte ich für legitim, aber als allgemeine „Bürgerpflicht“ würde ich eine Impfpflicht ablehnen.

Makademia: Sehen Sie die Black Lives Matter Bewegung als ein Beispiel dafür, dass Menschen protestieren gehen, damit Ihre Menschenrechte nicht verletzt werden?

Marie-Luisa Frick: Black Lives Matter ist zwar eine sehr inhomogene Bewegung, aber ich denke schon, dass eines der Kernanliegen die Einhaltung basaler Menschenrechte ist. Hier wiederum um die grundlegenden Menschenrechte der körperlichen Sicherheit und des Lebens. Es zeigt, dass es Rechte gibt, die so wichtig sind, weil sie die Basis für alle anderen Rechte sind. Wenn ich nicht „intakt“ bin, wenn ich nicht lebe, dann brauche ich eigentlich auch kein anderes Recht. Dass es diese Rechte nicht für alle Menschen gibt, ist in vielen Bereichen sichtbar. Dass das Recht auf Leben für alle zu gelten hat, heißt  hier konkret, dass man nicht willkürlich des Lebens beraubt werden darf. Es braucht immer Gründe, wenn Menschenleben genommen werden. Was solche guten Gründe sind, muss sich eine Gesellschaft ausmachen. Aber wenn sie schon ein Rechtssystem hat, wo es verboten ist, Menschen zu töten, ohne dass ein Gerichtsverfahren stattgefunden hat oder dass Notwehr vorliegt, dann ist in diesem System der Schutz des Lebens bereits angelegt. Dieser Schutz wird aber in zu vielen Fällen entzogen.

Eine Botschaft ist daher: „Bitte schaut, dass solche Polizisten nicht in den Dienst kommen oder bei Auffälligkeiten aus dem Polizeidienst entfernt werden!“ Man sollte auch darauf hinarbeiten, dass es neue Beziehungen zwischen den Afro-American Communities und der Polizei gibt. Derzeit werden in den USA männliche Schwarze häufig nur als Verdächtige und Täter gesehen. Polizisten entwickeln dann manchmal ein Bild, das dehumanisierend ist: Der andere wird gar nicht mehr als Mensch wahrgenommen. Dann ist es auch egal, ob er erstickt, weil er ohnehin kein „echter“ Mensch ist. An diesen Einstellungen muss man unbedingt arbeiten. Das kann nur gelingen, wenn man die Polizei und den Staat miteinbezieht und sie nicht nur als Feindbilder betrachtet. Polizisten schützen unsere Menschenrechte und das müssen Polizisten stets beherzigen. Wie kann ich als Gesetzeshüter verhindern, dass ich in diese dehumanisierende Sichtweise hineinrutsche, wenn ich schlechte Erfahrungen mit einer gewissen Gruppe gemacht habe? Wichtig, meint Frick, sei eine Kultur des gemeinsamen, offenen Nachdenkens im Arbeitskontext: „Bin ich rassistisch, wenn ich das tue? Was ist Rassismus? Habe ich heute richtig gehandelt, als ich das getan habe?“ Ich glaube, dass eine solche, auch professionell unterstützte, Selbstreflexion sehr viel zu Verbesserungen beitragen würde.

1 Comment

  • Peter Stöger

    Lb. Dank für die Gedanken, denen ich gern und gut zustimme. Da gilt es auch für die Pädagogik in Richtung Bildungsconquista viel selbstkritisch nachzudenken. Viel zu lange haben wir das Philosophische aus der Pädagogik ausgesperrt. Was herauskam war ein pures Nützlichkeitsdenken.

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