Montag, Dezember 9

Anthropogener Einfluss auf Gletscher und Polarregionen

von Ramona Reichert
Lesedauer: ca. 7 min

Im Frühjahr fängt die Schneedecke in den Bergen an zu schmelzen. Ab jetzt heißt es wieder: Wanderschuhe statt Schistiefel. Oder etwa nicht?
Wer auch im Sommer die Schier oder das Snowboard nicht stehen lassen möchte, kann auf Gletschern seinem liebsten Hobby nachgehen.

Doch was befindet sich eigentlich auf und unter der Oberfläche? Gibt es dort Leben? Wie sieht es aus? Welchen Einfluss hat der Klimawandel auf den eisigen Lebensraum – die Kryosphäre? Und welche anderen anthropogenen Einflüsse wirken auf sie?
Fragen, mit welchen sich Frau Dr. Birgit Sattler vom Institut der Ökologie seit mehr als 25 Jahren befasst.
Als Pionierin auf ihrem Gebiet hat sie für ihre Forschungen bereits 19-mal die Polarregionen unseres Planeten bereist.

Die Erkenntnis: Leben im Eis existiert. Es ist nur mikroskopisch klein. In der Kryosphäre tummeln sich Bakterien, Pilze und Algen. Aber auch das ein oder andere mehrzellige Lebewesen, wie Bärtierchen (Tardigraden) oder Rädertierchen, kann man finden. Vor allem in kleinen Schmelzlöchern auf der Gletscheroberfläche, den sogenannten Kryokonitlöchern. Diese entstehen, wenn sich Gestein oder Sand durch Sonneneinstrahlung erwärmt und so das umliegende Eis schmilzt.
Als Kuriosum zeigt Frau Dr. Birgit Sattler bei Bildungsprogrammen für Schulklassen gern mal einen Gletscherfloh, der perfekt an das Leben unter 0°C angepasst ist, auch wenn dieser eigentlich nicht in ihren Forschungsbereich fällt.

Die Mikroorganismen, die Frau Dr. Sattler und ihr Team untersuchen, zeichnen sich insbesondere durch zwei Eigenschaften aus.
Zum Ersten kann man sie aufgrund ihrer Gefrierschutzproteine beliebig oft auftauen und wieder einfrieren, ohne, dass die Organismen Schaden erleiden. Für die Forschung ist dies ein praktischer Vorteil. 
Zum Zweiten vermehren sie sich unglaublich langsam. Ein Bakterium in einem Klärwerk vermehrt sich alle 20 Minuten, im Eis dagegen kann es bis zu einem Jahr dauern! Dementsprechend ist das Leben in der Kryosphäre sensitiv gegenüber Veränderungen der Umwelt.

So verraten diese Mikroorganismen den Forschern eine ganze Menge. Über Eisbohrkerne und anschließende Laboranalysen können Wissenschaftler beispielsweise Veränderungen im Klima feststellen. Dazu muss die schwere Ausrüstung oft bei Minusgraden stundenlang auf einen Berg hinaufgetragen werden. Nicht gerade jedermanns Sache, wie uns Frau Dr. Sattler mit einem Schmunzeln verrät.

Ein neuer Ansatz ist zudem die Analyse des Gletscherwachstums und der Gletscherschmelze über die Jahreszeiten im Rahmen mehrerer Jahre. 2018 wurde dafür von Klemens Weisleitner eine Kamera am Jamtalferner im Paznaun installiert. Auf den bereits gewonnenen Zeitrafferaufnahmen kann man die rasche Dynamik der Gletscherschmelze sehen, was in einer Endlosschleife wie ein „Atemprozess“ scheint.
Den durchschnittlich zu erwartenden Rückgang kann man bei einer solch kurzen Untersuchungsdauer noch nicht empirisch bestätigen, jedoch wurde bereits in der zweiten Saison ein Dicken- und Längenverlust der Gletschermasse festgestellt.

Rein optisch erkennbar sind auch andere anthropogene Einflüsse auf eisige Lebensräume. Als vor circa 400 Jahren die industrielle Verbrennung von Kohle einsetzte, schlugen sich erste Rußpartikel bereits kurz danach auf Schnee und Eis nieder. Heute kann man dies anhand schwarzer Banden in den Bohrkernen erkennen.
Nachvollziehbar sind auch erhöhte Strahlungswerte, welche durch Tests und Einsätze von Nuklearwaffen verursacht wurden.

Auch der Aufschwung von Plastik in der alltäglichen Nutzung findet sich in genommenen Proben wieder. Große Teile an Verpackungsmüll, kaputten Absperrnetzen und -gittern von Schibetrieben werden bei Untersuchungen gefunden. Aber auch Plastik, an das man erst mal nicht denkt, weil es winzig klein ist, nämlich Mikroplastik. Bunte Fasern von Funktionswäsche, Rückstände der weißen Gletscherabdeckungen, sowie der Abrieb von Schien und Wanderschuhen. Frau Dr. Sattler sagt, man kann sogar die Zeit der 80ger und 90ger Jahre anhand der knallbunten Rückstände damaliger Wintermode gut erkennen.

Interessanterweise findet man die Spuren der Zivilisation nicht nur in stark frequentierten Tourismusgebieten. Auch in entlegenen Regionen und an den Polen kann man anthropogene Einflüsse feststellen, denn Mikroplastik und andere kleine Partikel werden über Winde atmosphärisch verbreitet.

Wir haben nachgefragt: Was hat das nun alles für eine alltagspraktische Relevanz?
Partikel wie Mikroplastik werden über die Schneeschmelze ins Grundwasser eingetragen und wir nehmen es dann mit dem Trinkwasser in unseren Körper auf. Mikroplastik ist jedoch keineswegs unbedenklich. Es stellt ein ernstzunehmendes Gesundheitsrisiko dar, da beispielsweise in der Lunge Gewebeschäden entstehen und kleinste Teilchen auch in die Blutbahn gelangen können. Vor Kurzem wurde Mikroplastik sogar in der menschlichen Plazenta nachgewiesen. Zudem lagern sich besonders viele antibiotikaresistente Keime an Plastikrückständen an und bilden einen Mikrofilm.
Da die Kryosphäre eng mit dem globalen Wasserhaushalt zusammenhängt und viel Süßwasser speichert, ist durch das Abschmelzen der Eisdecken unseres Planeten auch ein signifikanter Anstieg des Meeresspiegels zu erwarten. Dieser bedroht die Existenz aller Menschen, die in Küstennähe siedeln.
Darüber hinaus wird sich die Albedo, die Rückstrahlkraft der Erde, bei einem Verschwinden der weißen Schneedecken drastisch reduzieren. Dadurch wird weniger der einfallenden Sonnenstrahlung zurück in den Weltraum reflektiert und die Erde heizt sich auf. Der Treibhauseffekt wird verstärkt.

Damit wir also noch lange Schifahren und Snowboarden gehen können, ist ein jeder gefragt.
Es liegt Handlungsbedarf vor. Ein allgemein angemessenes Klimaverhalten von Privathaushalten und Industrie ist erforderlich. Hier stehen alle in der Verantwortung!

Wir schlagen vor, im ersten Schritt den eigenen Müll wieder mit ins Tal zu nehmen und dort entsprechend fachgerecht zu entsorgen und im zweiten Schritt – wo es geht – auf natürliche Materialien auszuweichen und den eigenen Energieverbrauch zu senken.

Zum Abschluss hat uns Frau Dr. Sattler noch verraten, was für sie das Spannendste an ihrem Forschungsgebiet ist: „Egal wohin wir schauen, es gibt überall Leben. Doch wie hängt das alles zusammen?“. Auf der persönlichen Ebene weiß sie besonders die Teamarbeit und „Backpapier-Abende“ zu schätzen. Bei Wein und Gelächter wird mit Markern auf Backpapier ein neues Forschungsprojekt geplant. Schon beim Erzählen lächelt Fr. Dr. Sattler strahlend.

Weiterführende Links:
1. Dr. Birgit Sattler am Institut für Ökologie
2. Klemens Weisleitner am Institut für Ökologie
3. „KLEINES LEBEN IM EWIGEN EIS“ Interview mit Fr. Dr. Birgit Sattler
4. „Alpine Resistance Map BLOG“ von Daniel Gattinger
5. Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung
6. Nanopolystyrene translocation and fetal deposition after acute lung exposure during late-stage pregnancy
7. Plasticenta: First evidence of microplastics in human placenta

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